W a l t h e r P e t r i
memento vivere
zu deutsch: gedenke zu leben, memento vivere:
deines Lebens, deines
Daseins werde inne.
Auch in diesem Augenblick, da wir vor dem Bild gewordenen
ICH SELBER
eines Malers stehen. Und schauen.
Vorsicht aber mit der Sprache: sie ist zu schnell, zu definitiv. Versuchen
will ich, meine Hemmung zu sprechen angesichts dieser Bilder nicht zu
überspringen. Zumal mir keine kulinarische Harmonie und absichtsvolle
Gefälligkeit eine Brücke baut: die Bilder, ein jedes auf seine Weise -
entbergen ein radikal formuliertes Psychogramm, wortlos intensiv die
Vehemenz sichtbar werdender innerer Bewegung, berührend und befremdlich
zugleich die erzeugte Balance von Farbe und Ur-Form, in keinem Bild fehlt sie:
die archaische Rundung, das Konvexe, das Gewölbtsein unserer Leiber.
Immer kann unser Auge am Grund der Bilder ursprüngliche Realien wenn
schon nicht deutlich erkennen, doch zumindest erahnen: Figuren und
Figurenkonstellationen.
Alles weitere leistet der Betrachter, wenn er assoziationsbereit dem Furioso
dieser Bilder gegenübersteht. Mich läßt die immer wiederkehrende Leit-Farbe Rot an
pures geöffnetes Leben denken, nicht in einem chirurgischen Sinn, nicht im
Sinne einer Schlachtung.
Dieses sich im Bild ereignende Offensein - manchmal gemahnt es an eine
Wunde, wahrhaftig und ungeschönt befremdlich: da wird uns ein Bild
vorgehalten, das sich nicht zufrieden gibt mit hübscher Akkuratesse, ein
Bild, das hinter die Oberflächen zu dringen vermag, hinter die Abschottung unseres Selbst, wo soviel
Verborgenes und Zurückgehaltenes pulsiert - und: von seiner Anwesenheit
durch ein leises Befremden Kunde gibt, vor dem Schutzbedürfnis auch, das
jeder, der sich betroffen fühlt, kennt. Ich versuche nicht den Bildern
Rainer Herolds eine Interpretation gegenüberzustellen, weil ich weiß, daß -
wenn Farbe und Form zu uns sprechen, letztendlich nur zählt, welche
Assoziationen und Impulse, unser Fühlen und Denken anbelangend, von den
Bildern ausgehen. Für mich sind Bilder Ortschaften, in denen ein nach
Ausdruck verlangendes Ich geheimnisvolle Zeichen setzt.
Im Falle Rainer Herolds entstehen diese Ortschaften mitten in der
norddeutschen Landschaft, an einem Punkt, dessen alter Name ethymologisch
auf die nacheiszeitliche Moor- und Sumpflandschaft verweist.
Es wäre ein falscher Inbegriff zu sagen, der Maler lebe zurückgezogen in der
Nähe der alten Hansestadt - die Natur ist sein Lebensfeld, Auge in Auge -
und dies in einem wortwörtlichen Sinn: Auge in Auge mit der Natur - die
störenden Suggestionen elektronischer Bilder strikt ablehnend, weil sie das
Wachstum und das sich Zeit lassende Entstehen der authentisch individuellen Bilder
behindern würden.
So ist in Jahrzehnten eine Arbeitsweise entstanden, die alles Schönfärbende
und Glatte meidet, die in Tagewerken und immer neuen Anläufen, so lange
der Magnetismus einer Bildidee nach weiteren Variationen verlangt, radikal
den genauest möglichen Ausdruck sucht - die Ergebnisse solcher Arbeit, frei
von marktschreierischem Gehabe, enthalten, weil sie konzessionslos nur der
eigenen Intention verpflichtet sind, jenes Psychogramm, das ausschließlich
mit Farbe und Form gestaltet wird, die ihrerseits zu Gesichtern, aber auch
zu Gesichten und Visionen, zu Ahnungen werden - vom puren geöffneten Leben,
zu Spiegeln unserer Selbst, durchlässig für die uns prägende und unablässig
an unserer Seele zehrende und zerrende Realität.
Doppeldeutiges Bild, dem Haus und Atelier des Malers eingezeichnet:
durchlässig sogar das Schilfdach - ein Marder hat sich heimlich
hindurchgebissen - ich sah, auf dem Dachboden stehend, das Loch, nicht weit davon lehnte ein großes
schwarz-weißes Bild aus einer Reihe, in der vehement geschwungene und sich
aufbäumende Lebenslinien den weißen Grund bedecken.
Auch in diesen Arbeiten vermag man den Ursprung, die reale Gegebenheit,
gleichsam als Untertext zu erkennen, der von spannungsgeladenen Zeichen
überlagert und dadurch verwandelt wird zu einem vieldeutigen Gebilde.
Charakteristisch für viele grafische und malerische Arbeiten Rainer Herolds
war und ist, daß ein literarischer Text zur Initialzündung wurde, wobei
auffällt, daß menschliche Phänomene in die Sprache von Bildern übersetzt
werden.
Abschnürendes Gefangensein, Verrat durch Freunde, aber auch der Gesang auf
das Dasein.
Wer wie Rainer Herold von einem Akribie verlangenden Handwerk herkommt,
dessen Disziplinierung es späterhin zu überwinden galt, überzeugt umso mehr
durch die mühsam gewonnene Freiheit bei der Gestaltung seiner Bilder, die
von
den Eigenschaften ihres Schöpfers sprechen: von seinem Humor, seiner
Genauigkeit, seinem Sinn für skurril Groteskes, seiner Fähigkeit, mit
sezierender Schärfe und Ironie Bildformen und Bildgestalten zu entwickeln.
Wesen sah ich
ohne Haut.
Sehr viel mehr, als Rainer Herold über und zu seinen Arbeiten zu sagen
bereit ist, steckt in ihnen. Das macht ihre Qualität jenseits des Verbalen
aus. Und wer genau hinschaut, findet in den Bildern immer Konstellationen
zwischen Menschen, die sich nicht in hermetisch geschlossenen Räumen
befinden. Es ist ein Verlangen nach Menschlichem darin.
Marin Sorescu, ein bedeutender rumänischer Dichter, hat in einem Gedicht
festgehalten, was ich als Brücke zwischen den Ortschaften des Malers und
uns,
die wir hier versammelt sind, begreife:
Der Rost ging von Haus zu Haus
und suchte die Eisenmenschen.
Am Morgen mussten sie einander
mit Haken
unter dem Schrott hervorziehen.
Daher wollten die Menschen keine
Eisenmenschen mehr sein.
Ich sah ganze Scharen
mechanischer Menschen,
die, angewidert von jeder Art Maschine,
zu Fuß heimkehrten
ins urväterliche Fleisch.
© Walther Petri
Juli 1995
Eröffnung einer Ausstellung von Rainer Herold